Auszüge aus den Nachtbuchfragmenten:

 

Nachtbuchfragment No. 587 (- Der anonyme Staat.)

 

Da war so eine Gruppe an Typen, die ihm gleich sofort äußerst verdächtig vorkam, und also nahm er Einen davon ins Visier, und drängte ihn mit den Blicken in eine Sackgasse hinein, um zu fragen:

Was hast du da grade gesagt?“

„Ich sagte: Wir sind das Volk! Na und?“

„Ich mach dich platt, du Sau!“

„Aber...“

“Wegen DIR musste ich ein Leben lang Steuern bezahlen, du blöde Sau!“

„...aber, wir alle sind doch der Staat!“

„Von wegen! Faule Ausreden! Ich gehöre jedenfalls nirgendwem an!“

„Das sagt man doch nur so!“

„Ist mir doch egal! Ich mach das jedenfalls nicht! Und? Wo ist jetzt mein Geld?“

„Welches Geld denn?“

„Na, die Kohle, die ich dir ein Leben lang in den Hintern stopfen musste – genau die!“

„...aber... Woher soll ich das denn wissen? Ich bin ja nicht das ganze Volk! Das sind doch wir alle!“

„Ich jedenfalls nicht! Und was fällt euch eigentlich ein, Gesetze für die anderen mitfestlegen zu wollen? Was maßt ihr euch da überhaupt an, du und dein kleiner Verein, he? Ihr kommt euch wohl so richtig toll vor, wenn ihr hier fett im Kreis rummarschiert, und den dicken Affen raushängen lasst, na? Und dann heimlich Panzer ins Ausland verschiffen, im Bundestag Koks schniefen oder von glorreichem Weltfrieden faseln, während anderswo Kinder verhungern, und die Inflation, und die Staatsverschuldung – geschehen all diese Verbrechen etwa nicht im Namen des Volkes?

Sprich endlich, du feiger Idiot!“

„Aber dafür kann ich doch gar nichts! Das ist ja nicht meine Schuld!“

Der Typ war schon beinahe am Flennen.

„Willst du, dass ich dich zusammentrete, wie einen räudigen Straßenköter, der mir ans Bein pisst?

Gerade eben konntest du deine Fresse schließlich noch groß aufreißen, oder etwa nicht?“

„Ich bin ja gar nicht der Staat! Das ist doch bloß ein ganz schreckliches Missverständnis!“

“Du kleiner Scheißkerl! Willst du vielleicht behaupten, ich hätte mich verhört?“

„Nein, nein, nein, sicherlich nicht, ich meine ja nur...“

„Hör genau zu, du blöder Pisser! Das reicht mir jetzt! Ich hab mich lange genug von dir für dumm verkaufen lassen – und ich will jetzt mein Geld zurück! All das gegen meinen Willen für unnötige Baustellen und beschissene Kindertagesstätten ausgegebene Steuergeld! Außerdem verlange ich umgehend einige Gesetzesänderungen – insbesondere in Hinsicht der Einwanderungspolitik!“

„Aber, aber... ...das ist doch gar nicht mein Fachgebiet! Ich bin doch nicht dafür verantwortlich...“

Der Pfadfinder packte und schüttelte den Staat, bevor er ihn wieder auf wackligen Beinen abstellte.

„Wie viel hast du denn so auf dem Konto?“

„Nur 300 Euro.“

„Dann gib mir eben wenigstens 100.

Das reicht mir als prozentualer Anteil und wird dir vielleicht eine gewisse Lektion sein.“

„Okay.“

„Und wehe, ich erwische dich noch einmal in irgendeiner Gruppe von Vollidioten,

die ohne individuell darüber nachzudenken, irgendwelche plumpen Parolen herumschreien!“

„Okay.“

„Na gut. Dann gehen wir jetzt gemeinsam zum nächstgelegenen Bankautomaten, einverstanden?“

„Okay.“

Und dann gingen die beiden zur nächstgelegenen Bankfiliale, um dem Staat die Prügel zu ersparen.

 

Jeden Tag eine gute Tat.

 

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Wir sehen die kostbaren Bücherleichen, wie sie prasselnd als Funken zum Himmel hinauffliegen, oder sich als dunkler Rauch in der Luft verteilen, um sich mit dem ganzen Universum zu vereinen;

Wir sehen, wie ihre alte Haut Falten wirft, sich verbiegend, lebendig windend in orangefarbener Glut, zischend und jammernd vor Schmerzen; und wir sehen die beschriebenen Seiten, die sich vor lauter Scham schwarz färben, für immer unlesbar werdend, vor den eigenen Augen krepieren; so zerbrechlich, wie sie es seit jeher waren.

Mit jedem Atemzug müssen wir sie in uns aufnehmen, in uns weitertragen,

auch ohne alle Worte. Sie haben uns beeinflusst.

                                                                         Sie sind unzerstörbar.

 

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Nachtbuchfragment No. 312 (- Wie kann ich schreiben?)

 

Es gab eine Pianistin, deren Konzertflügel Selbstmord beging. Ihr Mann erzählte ihr, das Klavier hätte sich einfach aus dem Fenster hinabgestürzt, und weil sie im 42sten Stock wohnten, war das tödlich. Sie ärgerte sich darüber, schob die Schuld ihrem Ehegatten zu, und kaufte sich ein neues. Vier starke Männer mussten es gegen den eigenen Willen bis ins 42ste Stockwerk hinaufschleppen – doch sobald sie die ersten Tasten drückte, musste sie feststellen, das es kontinuierlich zu schrumpfen begann. War das Einbildung? Sie ging schlafen, ohne ihrem Mann davon zu erzählen. Am nächsten Morgen hatte das Piano allerdings die Höhe des dazugehörigen Hockers erreicht, und es wurde unvermeidlich, vom Garantie-Recht Gebrauch zu machen – noch bevor es jedoch wieder abgeholt werden konnte, entwischte es durch eine geöffnete Türe, und versuchte auf seinen vier Holzfüßen 42 Stockwerke hinabzurennen, wobei es stolperte, und in eintausend Einzelteile zerfiel, die vom Rückgaberecht ausgeschlossen waren. Bevor sie den Kauf eines weiteren Instrumentes in Erwägung zog, verlangte die Frau nun zuerst einmal mit dem Besitzer des Ladens zu sprechen, bei dem sie die ersten beiden Klaviere billig erstanden hatte – und als dieser angeblich zu beschäftigt war, verschaffte sie sich Zugang in die hinteren Bereiche, wodurch ein Geheimlabor aufflog, in dem unterschiedliche Instrumente in Reagenzgläsern herangezüchtet wurden. Der Geschäftsinhaber sparte sich durch die illegale genetische Züchtung von unechten Gitarren, Flöten, Geigen und ganzen Schlagzeug-Sets, die Herstellungs- und Transport-kosten seiner Ware ein. Das viele der so produzierten Gegenstände, schwere psychische Störungen davontrugen, und sehr häufig auch keine lustigen Töne mehr hervorbringen konnten, sondern nur noch schwer depressive Klänge erzeugten, erschien ihm, angesichts des Kosten-Nutzen Faktors, von eher geringer Bedeutung zu sein. Sie rief deshalb die Polizei an und verklagte die Bande, was auch zur Aufklärung einer mysteriösen Selbstmordreihe in Musikerkreisen führte. Ihr Mann war ebenfalls erfreut, denn sie entschuldigte sich bei ihm, und die beiden hatten richtig guten Sex. Drei Wochen später wurde das nächste Piano geliefert. Sie stellte fest, dass sie schwanger war, er fing etwas mit seiner Sekretärin an, und die gesamte Wohnung entwickelte eine destruktive Ader. Die Fenster schrumpften, die Spiegel zersprangen, das Wasser kam als heißer Dampf aus den Hähnen, und die Steckdosen produzierten entweder gar keinen, oder wellenartig viel zu viel Strom, um alle daran angeschlossenen Geräte zu foltern. Alle Türen mussten aus ihren Angeln gehoben werden, weil sie sich ansonsten partout nicht mehr öffnen ließen. Aus den Wänden und dem Fußboden drangen Stacheln und Giftpilze hervor. Der Kühlschrank tauschte seine Funktionsweise mit dem Herd, während sich das Geschirr von allein auf dem Boden zerschmiss. Auch die Hausmöbel entwickelten kannibalistische Züge, und fingen an, sich gegenseitig zu verzehren. Einfach alles stand Kopf oder rebellierte; sogar die Teppiche rollten sich vor Angst in den letzten Winkeln zusammen. Die Bilder und Familienporträts lagen nun quer verstreut im Gang, mit aufgesprengten Rahmen, wie Stolperfallen in einem Kriegsgebiet, einem Leichenfeld voller Sprengminen und das Wenige, das vom alltäglichen Leben übrig blieb, nachdem die Apokalypse vorüber zog, bildete einen See aus Säure, in der Mitte des Wohnzimmers, dort, wo früher mal ein Piano stand, welches Selbstmord beging, indem es aus dem Fenster des 42sten Stockwerks sprang...

 

...was zur Hölle, soll ich darüber schreiben?

 

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Nachtbuchfragment No. 843 (- Alles zerbricht.) 

 

Der Tau deiner Poren,

das Gefühl deiner Augen auf meiner Haut,

dein Herz schlägt in meinem, meine Gedanken befinden sich in deinem Mund;

Vieräugiges Monster; Ellbogenwunder;

mein verkrüppeltes, fliegendes Kind;

Hab keine Angst mehr, denn wenn du jemals stirbst, werde ich bei dir sein

Wenn du mein Floss bist, dann werde ich dein Anker,

Wenn du eine Rose wirst, werde ich deine Dornen, und wenn du ein See bist,

dann werde ich eine Trauerweide sein.

 

Das verspreche ich dir!

 

 

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Nachtbuchfragment No. 746 (- Monolog mit einer streunenden Katze.)

 

>Ich weiß, dass du es bist.<, sagte ich zu der Katze, die auf dem Fensterbrett saß.

>Erinnerst du dich noch an den Regen?

Das rhythmische Prasseln auf dem Wellblechdach über uns? Wir hatten fast gar nichts und waren trotzdem so glücklich darüber, miteinander zusammen zu sein.

Wie dumm ich doch war, zu glauben, wir bräuchten noch mehr – aber ich schämte mich, dir nicht genug bieten zu können, und hatte Angst, dich früher oder später zu verlieren – und so ging ich also studieren, um unserer Liebe eine Zukunft zu gewähren, und weil ich, um es mir leisten zu können, auch nebenbei arbeiten musste, blieb naturgemäß immer weniger Zeit für dich übrig. Es war meine Schuld, dass du vor Einsamkeit krank wurdest – aber hätte ich mein Studium etwa einfach wieder abbrechen sollen, nachdem ich bereits so hart dafür gearbeitet hatte, kurz vor dem Examen zu stehen? Tat ich es etwa nicht, um uns zukünftiges Leid zu ersparen? Und nun sitze ich hier, mitten in der Nacht, in diesem blitzblanken Palast aus Marmor, und spreche mit einer streunenden Katze, weil ich nicht mehr schlafen kann. Ich schlafe schon seit deinem Tod nicht mehr, weißt du das? Wie gerne würde ich jetzt alles hier, gegen eine Stunde mit dir eintauschen – und wie sehr wünschte ich, es würde immer noch regnen.   Komm, ich gebe dir eine Schalle voll Milch – und dann rasch hinaus,

zurück in die Dunkelheit;

                                           hinein in die Stille der Nacht.<

 

 

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Nachtbuchfragment No. 458 (- Der leidende Künstler.)

 

Da ist er, der leidende Künstler, er liegt an seinem Swimmingpool und spielt Schach.

Seht seine tiefen Furchen und Denkfalten, während sein Handy vibriert. Verehrt ihn,

diesen Weisen und intellektuellen Gott, dessen Bilder bekannt sind…

 

Kubistische Kunst. Surrealistische Kunst. Simplifizierte Kunst. Jackson Pollock`s extrovertierte Tapeten Kunst. Marcel Duchamps`s Mülleimer Kunst.

Andy Warhol`s Supermarkt Kunst.

 

Da schwitzt er, der leidende Künstler, er reitet auf einem vielfarbigen Ungeheuer und lacht.

Seht seine tiefen Furchen und Denkfalten, während sein Handy vibriert. Verehrt ihn,

diesen Weisen und intellektuellen Gott, dessen Bilder gerahmt sind…

 

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Nachtbuchfragment No. 891 (– Die Säure im Mund.)

 

Unglaublich, wie Sie den Raum betritt, unwissentlich wunderschön, ihre Schritte in meine Richtung lenkend, als kenne Sie meine Gefühle – Wie kommt es, dass außer mir niemand bemerkt,

dass Sie kein Mensch ist?

Es gab immer wieder flüchtige Zufälle, während derer ich ihr in den letzten 3 Milliarden Jahren begegnet bin, doch wenn ich nicht bald frage, schleicht die Chance endgültig vorbei.

Auch wenn es Depressionen bedeutet, vielleicht sogar Selbstmord ist, muss ich den Mut aufbringen, denn gleich wird Sie vor mir stehen, und Sie wird wissen wollen, wer ich eigentlich bin, und was ich für Sie empfinde, und warum ich hoffe, diesem Wunderwesen fremder Welten gewachsen zu sein – und vielleicht wird Sie fragen, was ich beruflich tue, ob ich somit potentielle Kinder ernähren kann, und was soll ich dann machen? Lügen? Auf keinen Fall! Sie wird mir verzeihen, dass ich male und schreibe, wenn sie erfährt, warum: In ihrem Universum ist Geld vermutlich ohnehin ein Fremdwort.

Sobald ich es offen versuche, gibt es zumindest die geringe Möglichkeit...

...aber da ist Sie auch schon, und ein unauffälliger Typ, der grade noch nett neben mir herumstand, geht bösartig einen Schritt auf Sie zu, und die beiden umarmen sich, als wären sie bereits seit Ewigkeiten ein Paar, und er flüstert ihr Gift ins Ohr, wie ein Massenmörder, und schaut Sie an, als wäre er ich, und ich muss einfach raus hier, weil die hübsche Musik sich in Lärm verwandelt, und all die ignoranten Tänzer nun reptilienhafte Gesichtszüge aufweisen, aufgrund des viel greller wirkenden Lichtes, und die Wände der Lokalität sich in Richtung des Deckenzentrums (zu)bewegen, und überhaupt alle Dinge ins Wanken geraten, als müsse das Gebäude selbst bis ins Zentrum der Erde hinabfallen, durch eine sich auftuende Pforte, und ich renne nach draußen, und stehe im eisigen Schnee, vor einem sehr langen Rückweg;

                        Batteriesäure im eigenen Mund

    und ihren Geschmack auf der Zunge.

 

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Es gibt keine Wahrheit, solange man sie nicht akzeptiert, keine Ordnung,

solange man sich keine Vorstellung von ihr macht –

und auch keine Gerechtigkeit, solange man nicht selbst dafür sorgt!

 

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     Gelegentlich kommt es vor, dass mir dumme Leute erzählen wollen,

man könne bestimmte Dinge nicht auf solche Weise sagen oder schreiben,

in der ich dies für gewöhnlich erst kurz zuvor tat...

 

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